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Montag, 8. September 2014, 11:36 Uhr

Solardorf Norderstedt: Ärger im Paradies

„Vorzeigeprojekt“ in der Kritik

Aller Anfang ist offenbar schwer..., Foto: Infoarchiv

Aller Anfang ist offenbar schwer..., Foto: Infoarchiv

Hans-Georg (Felix) Becker | Es sollte der ganz große Wurf mit Modellcharakter für eine erfolgreiche Energiewende werden: Das Solardorf Müllerstraße in Norderstedt. Doch jetzt üben Bauherren massive Kritik an der Erschließungsfirma, der Stadt Norderstedt und den Stadtwerken. Es ist nicht leicht die vertraglichen Konstellationen zu durchblicken und zu erkennen wer wann in welchem Umfang Versprechen nicht einhalten konnte oder vielleicht sogar gelogen hat. Inzwischen haben sich die Bauherren zusammengetan und machen auf ihrer Internetseite Ihre Erfahrungen mit dem Projekt öffentlich. Demnach ist von dem ursprünglichen Konzept eines energieautarken Solardorfs nicht mehr viel übriggeblieben.

Am Anfang hatte Sirri Karabag – einer der größten deutschen Produzenten von Elektrofahrzeugen in Deutschland – die Idee eine Siedlung zu bauen, die sich mit regenerativer Energie versorgt und die Elektroautos als Speicher für den produzierten Strom nutzt. Und das mit einem eigenen Stromnetz. Seinerzeit einzigartig für Deutschland. Gemeinsam mit dem Unternehmen Schilling Projekt Gesellschaft mbH wollte er das Projekt realisieren. Doch schon bald war Karabag nicht mehr mit von der Partie. Im Dezember 2012 kaufte der Erschließer, die Firma Schilling Projekt Gesellschaft mbH aus Bad Salzuflen das Grundstück für das Solardorf von der Stadt Norderstedt. Im März 2013 begann die Erschließung.

Differenz zwischen Theorie und Praxis, Foto: Infoarchiv

Differenz zwischen Theorie und Praxis, Foto: Infoarchiv

14 der insgesamt 27 Einzelgrundstücke wurden an die Olwo Hochbau GmbH aus Kiel verkauft. Nach Aussage der aufgebrachten Bauherren werden diese Grundstück nun sukzessive ohne die Bindung an das Solarpaket verkauft. Bis Mitte August betrifft das offenbar bereits 8 Grundstücke. Die Olwo Hochbau GmbH selbst hat sich dazu bislang nicht geäußert. Sollte die Aussage stimmen, würde zu diesem Zeitpunkt also schon jetzt keine Möglichkeit mehr bestehen, das Konzept umfassend und für alle Grundstücke im Ossenmoorring umzusetzen.

Sieht eigentlich ganz einfach aus, Foto: Infoarchiv

Sieht eigentlich ganz einfach aus, Foto: Infoarchiv

Die vertragliche Ausgestaltung des gesamten Projekts mit seinen einzelnen Modulen ist kompliziert. Zu kompliziert, um sie hier erschöpfend darzustellen. Während die Bauherren ihre Sichtweise auf der eigens eingerichteten Homepage deutlich machen, hat die Firma Schilling zu den einzelnen Punkten schriftlich Stellung bezogen. Zu dem Vorwurf, dass das Solardorf kein eigenes Blockheizkraftwerk (BHKW) besitzt, räumt die Immobilienfirma ein, dass das BHKW zunächst ausschließlich für die Siedlung Müllerstraße gebaut werden sollte. Allerdings sei man bei der Vorstellung des Projekts in den städtischen Ausschüssen zu dem Schluss gekommen, dass ein zentrales von den Stadtwerken geplantes BHKW, den Strom und die Fernwärme einspeisen soll. Weiter bemängeln die Bauherren, dass selbst die Aussage, dass Strom und Fernwärme ausschließlich über das BHKW geliefert werden sollen, nicht stimmen kann. Der Erschließer (Schilling) habe einen Großabnehmer-Stromvertrag mit den Stadtwerken Norderstedt über die Lieferung von Strom im Rahmen des Ökostrom-Tarifs. Der Großabnehmer-Stromvertrag wird von Schilling bestätigt. Die Fernwärme werde derzeit über einen ausgebauten Heizkessel der in der Nähe liegenden Grundschule produziert. Das BHKW sei erst vor kurzem geliefert und installiert worden. Dem Vorwurf der Bewohner, bisher keine Kenntnis über den Strombezugspreis zu haben, begegnet Schilling mit der Aufschlüsselung dieser Bezugspreise. Den Bauherren wurde offenbar versprochen Eigentümer des Stromnetzes zu werden. Bisher befindet sich das Netz allerdings im Eigentum der Firma Schilling. Es soll später in eine andere Gesellschaftsform umgewandelt werden. Es ist zu vermuten, dass die Bewohner des Solardorfes inzwischen gar kein eigenes Netz mehr betreiben wollen, da unter diesen Umständen z.B. eine vergütete Einspeisung überschüssigen Solarstroms in das städtische Netz nicht möglich ist.

Aber die Liste der Ungereimtheiten geht noch weiter. Schilling muss einräumen, dass die versprochene Speicherung überschüssigen Solarstroms in den Elektroautos nicht stattfinden kann, da die erforderliche Technik nicht lieferbar sei. Man habe Kontakt mit einer anderen Firma, „welche diese Technik wohl hat, jedoch teurer als vormals angedacht“ ist. An dieser Stelle sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Infoarchiv lediglich aus den öffentlich zugänglichen Aussagen der Bauherren und schriftlichen Einlassungen der Firma Schilling dazu zitiert hat. Eine vollständige „Abarbeitung“ würde den Rahmen sprengen. Die Versuche einer Kontaktaufnahme mit den Bauherren schlugen bisher fehl.

Mittlerweile hat das Thema auch die Politik erreicht. Auf der jüngsten Sitzung des Ausschusses für Stadtentwicklung und Verkehr waren mehrere Bauherren vertreten, die im Rahmen der Einwohnerfragerstunde ihre Anliegen vorbrachten. Sowohl der Vorsitzende des Ausschusses Jürgen Lange (SPD) als auch der 1. Stadtrat Thomas Bosse hielten die Zuständigkeit des Ausschusses für nicht gegeben. BÜNDNID90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE sahen das anders. Es sei für den Ausschuss durchaus wichtig, ob und wie die Vorgaben aus dem B-Plan umgesetzt würden. Beide Fraktionen stellten entsprechende schriftliche Anfragen. Stadtrat Bosse bot den Bauherren eine Gesprächsrunde unter Beteiligung der Stadtverwaltung, dem Projektentwickler und den Bauherren an.

Für die Stadt könnte auch durchaus ein Imageschaden entstehen, denn Norderstedt bekam im November 2013 sogar einen mit 5.000 Euro dotierten Preis des Landes für das „herausragende“ Projekt („…ein Meilenstein für die intelligente Stromnutzung mit Elektromobilität"). In dem Film „Leben mit der Energiewende 2“ wird ausführlich über das Projekt berichtet. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung bekommen die Worte des Baudezernenten in diesem Film eine ganz besondere Bedeutung: „Wir wollen in die Richtung. Wie weit wir es dann treiben können, müssen wir sehen. Wenn wir immer vorher die 100%ige Absicherung haben wollen, das geht, das geht aber nur so, dann ist meine Erfahrung, scheitern Projekte. Man kann auch durch übertriebene Penibilität Projekte kaputtmachen. Da müssen Leute zusammen kommen: o.k., wir riskieren es mal und die Unwegbarkeiten die unterwegs passieren in Kauf nehmen.“

2 Kommentare zu diesem Artikel

09.09.2014, 8:40 Uhr Maren PlaschnickNorderstedt - große Klappe, nix dahinter?

Alles Öko oder Etikettenschwindel oder was? "Norderstedt - eine Idee voraus" oder "Norderstedt - große Klappe, nix dahinter"?

Die Politik sollte sich auf jeden Fall zuständig fühlen! Schließlich ist der B-Plan nur unter bestimmten Prämissen verabschiedet worden. Einem "stinknormalen" Wohnquartier hätte die Stadtvertretung bzw. der Ausschuss für Stadtentwicklung und Verkehr an dieser Stelle womöglich nicht zugestimmt! Zumindest ist es für die Stadt Norderstedt ein Armutszeugnis, alles einem Generalunternehmer an die Hand zu geben und die vorhandenen Ressourcen im eigenen Haus oder bei den Stadtwerken ungenutzt zu lassen.

08.09.2014, 22:16 Uhr DrWyBesonders ärgerlich

Den Erwerbern wurde die sonderbare Regelung des Erschließungsvertrags , dass nämlich die Strom- und Fernwärmeleitungen im Gebiet auf Dauer im Eigentum des Immobilienhändlers verbleiben sollen, lange verheimlicht. Diese Tatsache konnte erst mit Hilfe eines Rechtsanwalts in Erfahrung gebracht werden. – Cui bono?
Es ist völlig unverständlich, dass dieses Projekt vom Baudezernat gegen die Stadtwerke durchgesetzt und nicht mit deren Experten gemeinsam sinnvoll umgesetzt wird.