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Montag, 6. Februar 2012, 23:00 Uhr

26,37 Euro und ihre Folgen

Sozialwohnung zu teuer: Jobcenter verlangt Umzug

Ausschnitt aus dem Schreiben des Jobcenters

Ausschnitt aus einem Schreiben des Jobcenters

Olaf Harning | Bereits seit 2005 wohnt Erika Seemann in einer sogenannten "Paragraph-5-Schein-Wohnung". Damals zog die heute 63jährige Norderstedterin um, weil sie ein den Bedingungen der Hartz-Gesetze entsprechendes Heim benötigte. Doch jetzt ist auch ihre Sozialwohnung zu teuer: Nach einer Absenkung der "Miethöchstgrenzen" für EmpfängerInnen von Transferleistungen im Kreis Segeberg soll die behinderte und an Krebs erkrankte Frau den monatlichen Fehlbetrag von 26,37 Euro selber tragen oder umziehen - notfalls in das "günstigere Umfeld von Norderstedt".

"2005 wurde Hartz-IV eingeführt und ich war als alleinstehende Person sofort davon betroffen. Also zog ich schon vor Jahren in eine gemäß der Satzungen für Unterkunft angemessene und günstigere Wohnung.

Aber nun ist meine Paragraph-5-Schein-Wohnung plötzlich und willkürlich nach sechs Jahren zu teuer und liegt mit 26,37 Euro über der neuen Mietobergrenze."

 

Leserbrief im Heimatspiegel, 14.01.2012

Das jedenfalls berichtete Seemann kürzlich in einem ausführlichen Leserbrief an den Heimatspiegel und das bestätigt indirekt Jürgen Hoffmann, Leiter der Leistungsabteilung im Jobcenter Kreis Segeberg. Zwar habe seine Behörde einen gewissen Entscheidungsspielraum, wenn die Differenz zwischen Miethöchstgrenze und Realmiete sehr gering ist oder die Betroffenen schwerbehindert sind. Im Regelfall aber würden die LeistungsempfängerInnen zum Umzug aufgefordert und dabei durchaus auch zum Wechsel der Kommune - obwohl eine "Arbeitsempfehlung" des Kreises Segeberg lediglich von der Verpflichtung zur Wohnungssuche in der "Wohngemeinde" ausgeht. Laut Hoffmann definiert dieser Begriff nicht nur die jeweilige Kommune selbst, sondern auch das Umland. Was das Segeberger Jobcenter darunter versteht, ergibt sich unter anderem aus den serienmäßigen Anschreiben an Betroffene: "Da Sie bei Ihrer Wohnungssuche nicht nur auf den Bereich Ihres derzeitigen Wohnortes und die nähere Umgebung beschränkt sind", so die Behörde, "sondern im gesamten Gebiet des Kreises Segeberg suchen müssen, weise ich zur Klarstellung darauf hin, dass sich die angemessenen Unterkunftskosten wie folgt staffeln". Es folgt dann eine Tabelle mit den Mietobergrenzen in den jeweiligen Regionen Segebergs. Der gesamte Kreis also eine einzige "Wohngemeinde"? Jens Tauschwitz, Leiter des Norderstedter Sozialamtes, liefert im Gespräch mit dem Infoarchiv eine etwas andere Definition: "Die Wohngemeinde ist so etwas, wie der "soziale Bezugsraum" eines Menschen ... also auch der Raum, in dem Menschen üblicherweise umziehen". Die konkrete Abgrenzung sei zwar schwierig, aber ein Umzug von Ellerau nach Quickborn oder eben von Norderstedt nach Henstedt-Ulzburg sei auf dieser Basis durchaus erzwingbar, ein Umzug vom verstädterten Norderstedt ins ländlich geprägte, östliche Segeberg hingegen kaum. Dabei sei der Begriff der Wohngemeinde mittlerweile "ausgeurteilt".

"Auch ich habe nun eine Umzugsaufforderung vom Arbeitsamt bekommen. Ich soll mich um eine günstigere Wohnung bemühen. Ich soll in das "günstigere Umfeld von Norderstedt" ziehen. Günstiger als Paragraph-5-Schein? Günstiger als Paragraph 5 gibt es doch gar nicht!!! Es werden mir zum Beispiel Wahlstedt, Boostedt, Itzstedt, Kisdorf, Rickling, Leezen oder Trave-Land vorgeschlagen ..."

 

Leserbrief im Heimatspiegel, 14.01.2012

Einmal von der Frage abgesehen, ob ein erzwungener Umzug für Menschen, die ohnehin gerade in einer finanziellen und damit auch oft sozialen Zwangslage stecken, überhaupt eine sinnvolle Antwort des Gesetzgebers ist, wird das konkrete Problem von Erika Seemann und vielen anderen erst durch die jüngst erfolgte Absenkung der Miethöchstgrenzen bei Transferleistungen ausgelöst. War es schon bislang schwierig, in Norderstedt Wohnraum in diesem Mietpreisbereich zu finden, ist das jetzt eigentlich kaum mehr möglich. Zwar berichtet Sozialamtsleiter Tauschwitz, dass auch für aktuell 359,- Euro Miete (ohne Heizkosten) noch vereinzelt Wohnungen für Ein-Personen-Haushalte zu finden seien, das aber meist nicht auf dem freien Markt, sondern beispielsweise auf Wartelisten der Wohnungsgesellschaften.

Die neuen, je nach Haushaltsgröße um 6 bis 14% abgesenkten Obergrenzen waren von der Beratungsgesellschaft Analyse & Konzepte ermittelt worden, einem Unternehmen aus dem Dunstfeld der Wohnungswirtschaft. Während die Werte im ländlichen Segeberg auf Basis der Erhebungen vereinzelt stiegen, wurden die Höchstgrenzen für Norderstedt gesenkt - obwohl schon ein Blick auf den Mietenspiegel das Gegenteil nahegelegt hätte: Lediglich alte und vor allem große Wohnungen haben sich hier zuletzt verbilligt - in einer Stadt, die kaum über Altbauten verfügt. Und selbst diese Verbilligung entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Augenwischerei, denn der Norderstedter Mietenspiegel für 2011 wird massiv durch das erstmalige Hineinrechnen zahlreicher Genossenschaftswohnungen beeinflusst. Tatsächlich beklagen sich Beratungsstellen und soziale Träger der Stadt immer lauter darüber, dass sie ihr Klientel auf dem regulären Wohnungsmarkt nicht mehr unterbringen können. Und die Stadtverwaltung schlug erst 2010 Alarm, weil sich die Zahl der geförderten Wohnungen alleine zwischen 2009 und 2017 halbiert, im Zeitraum zwischen 2001 und 2018 sogar drittelt. Kein Wunder, dass neben Betroffenen und Trägern auch Sozialdezernentin Anette Reinders (GALiN) die Zahlen von Analyse & Konzepte anzweifelt: "Es ist bedauerlich", so die Zweite Stadträtin, "dass die Realitäten am Wohnungsmarkt so ausgeblendet worden sind. Die neuen Höchstgrenzen erschweren die Situation vieler Betroffener.

Rückgang der Zahl geförderter Wohnungen: Grafik der Stadt Norderstedt

Die Zahl geförderter Wohnungen ist stark rückläufig (Grafik: Stadt Norderstedt)

Doch es geht eben nicht nur um bloßen Zahlen, auch das Vorgehen des Jobcenters sorgt inzwischen für "vernehmliches Grummeln" im Kreis. So wurden bereits Mitte November all diejenigen LeistungsbezieherInnen angeschrieben, die durch die Absenkung der Höchstgrenzen über den Werten liegen und zur "Senkung der Unterkunftskosten" aufgefordert. Das entsprechende Schreiben hat zwar keinen "Bescheid-Charakter", wird aber von den Betroffenen oft so aufgefasst - und hat offenbar etliche von ihnen dazu veranlasst, sich gegenüber dem Jobcenter vorzeitig bereit zu erklären, die überzählige Miete selbst zu tragen. Jürgen Hoffmann bestätigt das ganz offen: "Wir geben den Betroffenen zwölf statt der normalen sechs Monate Zeit, um ihre Miete zu senken. Wer uns dann erklärt, dass er auf keinen Fall umziehen wird, kann sofort die Übernahme der Kosten erklären" ... und damit dem Abzug von monatlich 15, 20 oder auch 30 Euro von seiner Grundsicherung zustimmen.

Heinz-Michael Kittler

Heinz-Michael Kittler

Not amused von dieser Vorgehensweise ist unter anderem Heinz-Michael Kittler von den Segeberger LINKEN. Für die Sitzung des Kreissozialausschusses am Donnerstag hat er mit seinen Fraktionskollegen deshalb einen Antrag eingebracht, der nicht nur die Kürzung der einmal gewährten Unterkunftskosten bei Veränderungen des Wohnungsmarktes, sondern auch die in diesen Fällen ausgesprochenen Aufforderungen zum Umzug unterbinden soll. Auch die vorzeitige, vertragliche Übernahme der Mietdifferenz durch Hartz-IV-EmpfängerInnen will Kittler künftig ausschließen, dürfte damit aber im Sozialausschuss auf schwierige Mehrheitsverhältnisse stoßen. Immerhin ist mittlerweile Bewegung in die Debatte gekommen, gerade in den letzten Tagen soll es vermehrt zu Gesprächen und Abstimmungen zwischen Segeberger Kommunalpolitik, Kreisverwaltung und Stadt Norderstedt gekommen sein. Für Betroffene ist das Verhalten des Jobcenters übrigens auch deshalb ein Problem, weil es im Kreis Segeberg kaum Sozialberatungsstellen gibt und wenn, dann meist für spezielle Fallgruppen. Immerhin erhalten alle Gewerkschaftsmitglieder Hilfe in den Rechtsabteilungen ihrer Einzelgewerkschaften oder beim DGB Rechtsschutz, anderen bleibt beispielsweise ein Anruf bei der Arbeitslosen-Telefonhilfe Hamburg.