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Freitag, 8. Februar 2013, 9:01 Uhr

Wichtige Diskussion - falscher Auslöser?

Auch in Norderstedt sorgt die "Brüderle-Story" für Diskussionsstoff

"Der Herrenwitz", der auslösende Artikel des "Stern"

Unter dem Titel "Der Herrenwitz" veröffentlichte der "Stern" Ende Januar einen Bericht über sexistische Sprüche Rainer Brüdersles an der Hotelbar.

Olaf Harning | Zur aktuellen, durch einen Stern-Artikel ausgelösten Sexismus-Debatte um FDP-Politiker Rainer Brüderle, sagte der schleswig-holsteinische Fraktionschef der Liberalen - Wolfgang Kubicki - kürzlich, er flirte für sein Leben gerne, nur eben jetzt nicht mehr mit Journalistinnen. Vor diesem Hintergrund haben wir einige Norderstedterinnen gefragt: Hat Brüderle "geflirtet"? Und: Geht die Debatte in die richtige Richtung?

Konkret wollten wir wissen, ob der Blick auf die Brust einer Frau an der Hotelbar und die Bemerkung, sie könne "ein Dirndl auch ausfüllen" überhaupt ein "Flirt" ist - wie Kubicki meint. Außerdem interessierte uns die Meinung der Norderstedterinnen zur Frage, ob die Debatte um Brüderle und ganz allgemein Sexismus in die richtige Richtung geht. Ein echtes Stimmungsbild scheiterte zwar daran, dass sich nur etwa die Hälfte der von uns Befragten zurückmeldete - zumindest mehrheitsfähig scheint aber zu sein, dass Flirten dann doch eher anders aussieht. Gleichzeitig kritisieren aber mehrere Norderstedterinnen das Vorgehen des "Stern" bei der Brüderle-Story - obwohl die Geschichte am Ende eine wichtige Kontroverse ausgelöst habe. Vielleicht wurde hier allzuviel Gewicht darauf gelegt, eine einzelne, höchstens durchschnittlich "belastete" Person öffentlichkeitswirksam an den Pranger zu stellen - um Auflage zu machen? Fakt bleibt, dass auch heute noch fast jede Frau von einem oder mehreren sexistischen Grenzüberschreitungen in ihrem Leben berichten kann. Dumme Sprüche, ungewollte Berührungen, Anzüglichkeiten und "Angebote" in Richtung Untergebener bis hin zu sexualisierter Gewalt - die Palette entsprechender Handlungen ist breit gefächert. "Zeit, dass sich was dreht", möchte man meinen.

Hier unsere Fragen und die eingegangenen Antworten:


Sehen Sie es als gewöhnlichen "Flirt" an, wenn ein Mann an der Hotelbar einer Gesprächspartnerin an der Hotelbar einer Gesprächspartnerin erkennbar auf die Brust sieht und ihr sagt, sie könne "auch ein Dirndl ausfüllen?

Der Artikel einer Journalistin, die ihren Abend mit Rainer Brüderle ausgiebig im "Stern" schildert, hat zu einer bundesweiten Diskussion zum Thema "Sexismus" geführt. Geht sie in die richtige Richtung? Was vermissen Sie in der Debatte?

Katrin Fedrowitz                  

(Vorsitzende SPD Norderstedt)

Voraussetzung für einen Flirt ist es für mich, dass beide "Flirtpartner" diesen Flirt wünschen. Wenn eine Frau entgegen mit einem Mann an einer Hotelbar ein "abendliches Gespräch" auf Augenhöhe führt, sollten die Augen des Mannes auch nicht auf ihre Brust gerichtet sein und natürlich verbittet sich eine Äußerung, wie sie "könne ein Dirndl füllen".                                  

"Vor dieser öffentlichen Diskussion habe ich mir wenig Gedanken über den alltäglichen Sexismus gemacht. Als Frau ist man (leider) an sexistische Bemerkungen in allen Lebensumfeldern gewöhnt. Man hat gelernt, damit umzugehen und notfalls Grenzen zu ziehen. Insofern ist diese Debatte für unsere Gesellschaft richtig und wichtig. Die Männer sind dadurch angehalten, sich und ihr Verhalten zu reflektieren und hoffentlich in Zukunft mit mehr Fingerspitzengefühl zu flirten. Mein Schwerpunkt wäre eindeutig der Sexismus in Abhängigkeitsverhältnissen. Kann eine Frau sich in ihrem privaten Umfeld doch immer noch etwas leichter wehren, stellt sich die Situation z.B. an einem Arbeitsplatz sehr viel schwieriger dar. Frauen, die in einem solchen Umfeld vermeintlichen Flirtattacken oder sexistischen Bemerkungen ausgesetzt sind, haben es sehr viel schwerer, Grenzen zu ziehen und anderweitig der Situation zu entgehen. Leider wird die Debatte irgendwann abebben, ohne dass sich wirklich etwas grundsätzliches in unserer Gesellschaft geändert hat. Trotzdem hoffe ich, dass der eine oder andere Mann sich in Zukunft ein bisschen mehr Gedanken macht, bevor er die nächste Zote vom Stapel lässt."

Anette Reinders

(Zweite Stadträtin)

"Klare Antwort: nein. Flirten ist sicherlich eine Form der Kontaktaufnahme, die leicht erotisch angehaucht ist, aber keinesfalls ist darunter eine "Anmache" zu verstehen. Ich bin aber auch dafür, dass man als Frau deutlich sagt, wenn man bestimmte Verhaltensweisen als grenzwertig oder auch grenzüberschreitend empfindet."

"Ich bin mir manchmal in diesem Land nicht so sicher, ob es tatsächlich allen Beteiligten um die Inhalte geht oder ob man nicht auch gerade Dinge sucht, um Menschen "fertig" zu machen. Die Rolle der Presse gibt mir in letzter Zeit viel zu denken. Ich würde mir wünschen, dass die Sexismus-Debatte nicht nur auf eine Person fixiert wird, sondern man sich ernsthaft auseinandersetzt. Auch der "Stern" täte gut daran, etwas Selbstreflexion zu betreiben. Und was den alltäglichen Sexismus betrifft, so gäbe es durchaus in Norderstedt auch Anlass zu Diskussionen, wenn ich mir so manche Veranstaltungsplakate ansehe."

Gabriele Heyer

(Vorsitzende FDP Norderstedt)

"Bei einem mir sympathischen Mann würde ich eine Anspielung auf mein Dekolletee eher als Flirt ansehen. Bei Frauen, die selbstbewusst auftreten, wissen es Männer durchaus, wie respektvoll sie sich zu verhalten haben."                                 

"Meiner Meinung nach geht diese Diskussion in diesem Punkt zu weit. Eine Entschuldigung nach so langer Zeit zu fordern ist mehr als nur albern. An der Bar sind sich zwei durchaus gleichstarke Parteien begegnet, von denen beide in der Lage waren, ihre Meinungen verbal direkt und offen zu vertreten. Schwieriger wäre es, wenn es ein Ungleichgewicht der Machtverhältnisse geben würde, wie bei Vorgesetztem und Angestellten.

Belästigung oder Komplimente stehen immer im Auge des Betrachters und sind meist nicht weit voneinander entfernt. Bikinis oder Miniröcke sind nicht nur aus rein praktischen Gründen entworfen worden. Abendkleider sind auch nicht aus Gründen der Sparsamkeit tief dekolletiert oder im Beinbereich hochgeschlitzt, damit die Damen besser laufen können. In diese Richtung gibt es noch eine Vielzahl weiterer Beispiele, was die Kleidung oder das Makeup für Frauen betrifft.

Die Diskussion wird wahrscheinlich Vieles im Handeln der Männerwelt verändern. Viele höfliche und nette Gesten werden einschlafen, Komplimente werden aus Angst einfach nicht mehr ausgesprochen. Wenn das so weiter geht, werden Männer bald keine Männer mehr sein und die Interaktion zwischen den Geschlechtern wird so weit neutralisiert und durch eine (eigentlich ungewollte) Etikette eingeschränkt, dass selbst ein einfaches Kompliment wie "eine schöne Frisur" unter die Rubrik "Sexismus" fallen wird. Ein neues Buch mit dem Titel "Respektvoller Umgang der Geschlechter" wird wohl demnächst auf die Bestsellerliste kommen ..."

Katrin Schmieder

(Sprecherin B90/Grüne)

"Wenn ein Gespräch durch einen "dienstlichen Auftrag" zustande kommt, haben derartige Äußerungen meines Erachtens überhaupt nichts mit einem Flirt zu tun und in einem professionell geführten Gespräch auch nichts zu suchen. Gleiches gilt für die Alltagssituationen, z.B. am Arbeitsplatz, wenn Machtpositionen und die Angst vor Image- und Arbeitsplatzverlust dazu missbraucht werden, sich jemandem verbal oder körperlich zu nähern. In einer von Beiden freiwillig gewählten Situation ohne Abhängigkeiten, z.B. einem privaten Treffen hätte das ein Flirt sein können. Das hängt von der individuellen Situation und der Vertrautheit der beiden Beteiligten ab. Beide sind dann für sich selbst verantwortlich und haben eben auch die Möglichkeit, sich in einer ihnen unangenehmen Situation verbal oder räumlich abzugrenzen, ohne Konsequenzen."

"Es gilt genau hinzuschauen, welches Magazin sich das und zu welchem Zeitpunkt auf die Fahnen schreibt. Geht es wirklich um den Inhalt, den einzelnen Politiker oder gar um Eigenwerbung des Magazins?

Ich kenne keine Frau, die in der Vergangenheit nicht ihre eigene, durchaus auch weitgreifendere Erfahrung gemacht hat. Geschwiegen haben fast ale, da zähle ich mich mit ein, als es in der Probezeit um die Fortführung meines Ausbildungsvertrags ging. DAS darf nicht sein und muss sich ändern! Frauen gilt es zu stärken, sich bei An- und Übergriffen klar zu positionieren und Männer, die das tun, müssen begreifen, dass das nicht geht und auch geahndet wird. Dazu kann diese Diskussion hoffentlich beitragen."

Maren Plaschnick

(Fraktionsvorsitzende GALiN)

"Nein, das ist kein charmanter Flirtversuch mehr, sondern plumpes Anbaggern eines chronisch weinseligen Politikers, der seine Sinne und Triebe offenbar nicht mehr so ganz beieinander halten kann. Einer Journalistin, die gründlich zum Thema "Brüderle" für ein Portrait recherchiert hat, müsste vorher klar gewesen sein, dass dieser Abend für ein professionelles, sachliches Interview ungeeignet ist. Schade, dass die FDP nun wieder wochenlang in allen Medien vertreten sein wird. Während z.B. die wirklich üblen, sexistischen Beleidigungen von Annett Meiritz, die der Spiegel-Korrespondentin bei der Piratenpartei passiert sind, niemand mehr thematisiert."

 "Ich fürchte, die derzeitige Debatte greift zu kurz und bleibt vordergründig bei den testosterongeschwängerten Ausfällen Einzelner, die dann angeprangert werden. Letztlich ändert sich so gar nichts. "Wie gut, dass wir mal darüber geredet (getwittert) haben!"

Es ist bekannt, dass sich Tonfall und Themen ändern, sobald Frauen mit im Team sind. Je mehr Frauen in allen Berufen und Hierarchiestufen bis zur Vorstandsebene selbstverständlich sind, desto stärker wird sich auch das Kommunikations-Klima zwischen Männern und Frauen verbessern. Dazu gehört unbedingt auch die gleiche Bezahlung für gleiche Leistung, weil sie das Selbstwertgefühl der Frauen stärken kann und sie sich beruflich wirklich überall hin trauen. Die derzeit diskutierte Quotierung in Vorständen und Aufsichtsräten wäre darüber hinaus ein wichtiger Schritt. Leider ist die dafür notwendige politische Unterstützung der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition da bisher ein Totalausfall."

Claudia Meyer

(Gleichstellungs-beauftragte Stadt Norderstedt)

"Sexuelle Belästigung hat wenig mit Sex, sondern eher mit Macht zu tun. Sie dient dazu, ein Ungleichgewicht deutlich zu machen bzw. auf diesem Weg herzustellen. Sexuelle Belästigung kann individuell unterschiedlich empfunden werden. Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006 ist in § 3, Abs. 4 sexuelle Belästigung definiert als (Zitat:) „unerwünschtes sexuell bestimmtes Verhalten“. Dazu gehören „unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen“ Wenn damit bezweckt oder bewirkt wird, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, liegt dem AGG zufolge eine Benachteiligung vor.

Den Begriff „unerwünscht“ halte ich dabei für sehr wichtig, denn hier spielt die Empfindung der betroffenen Person eine entscheidende Rolle. Und da passt doch Ihre Frage nach meinem Verständnis von “Flirt“:

Ein Flirt ist etwas, das auf gleicher Augenhöhe geschieht, weil Sympathie und Respekt vor der / dem anderen im Spiel ist. Deshalb ist ein Flirt angenehm. Für beide Beteiligten. Sexuelle Belästigung dagegen hat mit gleicher Augenhöhe überhaupt nichts zu tun, sie ist abwertend, und das spürt die belästigte Person auch. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz: Auch am Arbeitsplatz geht es hierbei um Macht. Daher findet sexuelle Belästigung fast immer gegenüber einer Person statt, die in der Hierarchie niedriger steht. Das Vorgehen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist gesetzlich geboten (Fürsorgepflicht des Arbeitgebers). Die Stadt Norderstedt hat dies für ihre Beschäftigten längst umgesetzt, viele andere Kommunen auch."

"Sexismus, sexualisierte Gewalt und Übergriffe waren und sind leider immer noch nicht selten in Deutschland. Es sollte bei der herrschenden Debatte aber nicht um die Frage gehen, ob und wie und wann sich Frauen wehren (können), sondern darum, das Ausmaß der Übergriffe wahr- und ernst zu nehmen. In einer Gesellschaft, in der Gleichberechtigung umgesetzt ist, geht es nicht darum, wie schlagkräftig eine ist und wie gut sie ihr Rüstzeug entwickelt hat. Es geht darum, einen respektvollen Umgang zwischen den Geschlechtern zu pflegen.

Leider bleibt in der Realität oft nichts anderes, als sich möglichst sofort und deutlich zur Wehr zu setzen – manche können das gut, manche aber nicht, weil sie verunsichert sind. Das ist ja auch Zweck der Sache – wie oben erläutert. Dann bleibt nur, sich Unterstützung zu holen. Und: an einer öffentlich geführten Diskussion beteiligen sich sowohl Menschen, die sich einfach nur mal gern bemerkbar machen wollen, als auch andere, denen am Thema gelegen ist und die sich damit auseinander setzen. Daher muss man meiner Ansicht nach die unterschiedlichen Facetten dieser Debatte kritisch betrachten. Aber schon die Tatsache, dass das Thema so umfassend öffentlich gemacht wird und dass so viele sich äußern wird meiner Ansicht nach im Ergebnis positive Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben.

Erfreulich finde ich, dass das Thema nicht als „Frauenthema“ abgetan wird, sondern als gesellschaftliches Problem gesehen wird. Denn die Rechte, die wir Gleichstellungsbeauftragte und viele andere einfordern, sind Menschenrechte! Gleichberechtigung ist in unserem Land ein Grundrecht (Art. 3 (2) Grundgesetz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ - Fünf klare Worte - was kann man daran missverstehen?) Da es aber eben an der Umsetzung hapert, legt Art 3 (2) zusätzlich fest: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Dazu können wir alle beitragen."

 

Nicht beantwortet wurden unsere Fragen von je einem Mitglied von CDU und DIE LINKE, von der Integrationsbeauftragten, der Stadtpräsidentin, dem Frauenhaus, von einer Aktiven im Seniorenbeirat und der Verantwortlichen für den Jugendbeirat in der Stadtverwaltung.