+ + + ARCHIVIERTER INHALT + + +

Diese Seite kommt aus unserem Archiv und enthält möglicherweise Informationen, die nicht mehr aktuell sind. Bitte beachten Sie das Veröffentlichungsdatum dieser Seite.

Samstag, 3. Juni 2006, 2:00 Uhr

CDU droht mit Autobahnanschluss

Herbert Paschen: "Jeder sieht Notwendigkeit"

Von Olaf Harning | Bereits im Winter 2003/2004 hatte die CDU die Trasse ins Gespräch gebracht, mehrfach demonstrierten darauf hin Hunderte gegen das Straßenbauprojekt. Auch wenn sich eine eilig gegründete Bürgerinitiative gegen den Autobahnanschluss bald als kurzlebig erwies, schaffte sie es doch, in den wenigen Wochen ihrer Existenz über 4.000 Unterschriften gegen den Bau zu sammeln und Bürgermeister Hans-Joachim Grote (CDU) zu überreichen. Doch dieses deutliche ?Nein? wurde damals wie heute ignoriert, die Planungen liefen weiter auf Hochtouren. Nachdem jetzt ein von den Kreisen Pinneberg und Segeberg in Auftrag gegebenes Gutachten zur Verkehrsentwicklung zu dem offiziell vorgesehenen Ergebnis gekommen ist, dass eine weitere Anschlussstelle "im Bereich Garstedt" und "nördlich von Ellerau" beantragt werden soll, gibt es kein Halten mehr: Herbert Paschen und seine Partei wollen "nach Jahren des Stillstands durch Rot-Grün" Nägel mit Köpfen machen und bereits 2007 mit dem Bau beginnen.
Geld aus Sozialkürzungen
Die kommunalen Kostenanteile für den Anschluss - alleine für die Planung und das Gutachten wurden bislang rund 2 Millionen Euro in den Norderstedter Haushalt eingestellt - können unter anderem aus Sozialkürzungen akquiriert werden, die der Bürgermeister und seine Partei Ende 2003 unter dem Slogan "Jugendarbeit 2010" beschlossen und 2004 umsetzten. Damals wurde unter Hinweis auf die angeblich klamme Stadtkasse unter anderem das seit 27 Jahren existierende Jugendkulturcafé Aurikelstieg (JuKuCa) geschlossen und verkauft, dem erfolgreichen Jugendhilfeprojekt "Lichtblick" und der Tagesaufenthaltsstätte für Obdachlose (TAS) die Mittel zusammengestrichen. Ein auch vom Info Archiv unterstütztes "Bündnis für eine soziale Stadt" ging seinerzeit mehrfach auf die Straße, konnte aber jeweils nicht viel mehr als 200 TeilnehmerInnen mobilisieren. Seltsamer Zufall: Nur Monate nach den massivsten Sozialkürzungen in der 35jährigen Stadtgeschichte tauchten zusätzliche Millionen auf, die nun unter anderem in Straßenbauprojekte und die Landesgartenschau 2011 fließen.
Autobahnanschluss und "Knoten Ochsenzoll"
Nach einigen Monaten intensiver Planung kommt also dieser Tage Leben in den Autobahnzubringer: Im Rahmen des sechsspurigen Ausbaus der A7 soll die neue Anschlussstelle "Norderstedt-Mitte" her. Auch das 25.000-EinwohnerInnen-Dorf Henstedt-Ulzburg und das Örtchen Ellerau orakeln bereits länger über weitere Zubringer nur wenige Kilometer nördlich der Anschlussstelle Norderstedt-Nord/Quickborn. Zeitgleich brachte Baudezernent Thomas Bosse auf einer CDU-Veranstaltung Ende April den Knoten Ochsenzoll wieder ins Gespräch. Nachdem für den seit fast dreißig Jahren geplanten Umbau der Kreuzung Schleswig-Holstein-Straße, Segeberger Chaussee, Langenhorner Chaussee bereits im Dezember "vorsorglich" das Soziale Zentrum (www.soziales-zentrum.de) dem Erdboden gleichgemacht wurde, um eventuell irgendwann benötigten Platz für Baufahrzeuge zu schaffen, soll es nun auch hier 2007 losgehen: Bis 2010 will die Stadt unter anderem einen Nord-Süd-Tunnel unter die bestehende Kreuzung buddeln lassen, darüber einen Kreisverkehr errichten. Parallel laufen übrigens auch die Planungen für den Ausbau der Niendorfer Straße weiter.
Mehr Verkehr
Zwar werden die Projekte unter anderem mit einer erhofften Entlastung der strapazierten Norderstedter Straßen begründet, tatsächlich aber werden alle Maßnahmen wohl eher mehr Verkehr produzieren. Meiden beispielsweise derzeit viele AutofahrerInnen den Bereich Ochsenzoll wegen entsprechender Stauungen in der Rushhour, werden sie den Knoten bei künftig fließendem Verkehr wieder in größerer Zahl nutzen. Der Zubringer Norderstedt-Mitte wiederum dürfte neben einer um wenige Minuten verkürzten Fahrt zur A7 im Wesentlichen bewirken, dass sich der Zustrom zur Autobahn nicht mehr zähflüssig auf zwei Trassen an den Rändern der Stadt bewegt, sondern nunmehr fließend in die Wohnquartiere verlagert wird, schon jetzt sinken entlang der geplanten Route die Immobilienpreise. Auch hier wird überdies die zusätzliche Route mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zusätzliche VerkehrsteilnehmerInnen locken. Selbst Baudezernent Thomas Bosse rechnet im Fall des Knoten Ochsenzoll mit künftig rund 10% zusätzlichem Verkehrsaufkommen. Alle Straßenbauprojekte dienen also in erster Linie dem Ziel, den innerstädtischen Verkehrsfluss zu erhöhen. An Verkehrsvermeidung in einer der autoreichsten Städte Deutschlands denkt offenbar niemand: Ein faktischer Rückschritt in die Verkehrspolitik der 70er Jahre.
Lärmbelastung
Dabei mangelt es weder an Kritik, noch an Zahlenmaterial: Mit fast 56.000 angemeldeten Fahrzeugen (1,5 Autos pro Haushalt) nimmt Norderstedt seit Jahren einen der bundesweiten Spitzenplätze ein. Neben der massiven Umwelt- und Gesundheitsbelastung durch Schadstoffe wurde insbesondere die Lärmbelastung der NorderstedterInnen in den letzten Jahren mehrfach untersucht - mit alarmierenden Ergebnissen: Eine im Auftrag des Norderstedter Umweltamtes erarbeitete Lärmanalyse machte deutlich, dass fast 6.000 von 73.000 NorderstedterInnen dauerhafter Lärmbelastung von 65 Dezibel (dB) ausgesetzt sind. Lärm in dieser Größenordnung gilt als gesundheitsgefährdend, u.a. das Risiko für Herzinfarkte steigt deutlich an. Zwar denkt man in der Stadt unter anderem über ein Nachtfahrverbot für LKW in einigen Straßenzügen nach, um zumindest die nächtliche Gesundheitsbelastung zu senken, generelle Maßnahmen zur Verkehrsminderung sind aber offenbar nicht angedacht. Statt dessen will man etwa die Segeberger Chaussee/Ohechaussee langfristig möglichst geschlossen bebauen (lassen), weil sich herausgestellt habe, dass diese Bauweise den Lärm für die dahinter liegenden Wohnquartiere erheblich reduziere. Das Norderstedter Umweltamt hat sich übrigens vor allem deshalb einen Ruf als Vorreiter in der Lärmbekämpfung erarbeitet, weil die EU-Richtlinie 2002/49 bis Juni 2007 Lärmkarten für sämtliche europäische Ballungszentren fordert. Außerdem sieht die Richtlinie mittelfristig das einklagbare Recht der BürgerInnen auf Ruhe vor.
Immer mehr Unfälle
Eine weitere Folge des wachsenden Auto- und Schwerlastverkehrs: In Norderstedt kommt es immer häufiger zu Verkehrsunfällen. Wie Dieter Aulich (Revierwachenleiter Polizei Norderstedt) und Polizeiverkehrsexperte Kai Hädicke-Schories kürzlich mitteilten, ist die Zahl der Verkehrsunfälle alleine seit 2001 um 15% gestiegen, selbst im Vergleich zum Vorjahr knallte es 5,4% häufiger. Als wahrscheinlichen Hauptgrund für den Anstieg der Zahlen nennt Hädicke-Schories dabei die große Verkehrsdichte in Norderstedt. Insgesamt verletzten sich 2005 373 Menschen bei einem Verkehrsunfall, die Polizei zählte alleine 24 Unfälle mit schweren Personenschäden und damit acht mehr als im Vorjahr. Dennoch stützt auch die Polizei einzelne Straßenbauprojekte, darunter den vorgesehenen Kreisel Ochsenzoll: Durch den neuen Kreisel an der Einmündung des Buchenweges in die Niendorfer Straße etwa sei diese Kreuzung beispielhaft "entschärft" worden.
Kein "Flugzug"
Quasi exemplarisch für eine rückwärtsgewandte Verkehrspolitik auch des Landes Schleswig-Holstein steht aktuell die Nachricht von Wirtschaftsminister Austermann, den zuvor angedachten "Schienenflieger" oder auch "Flugzug" von Kiel über Neumünster und Norderstedt zum Hamburger Flughafen und zum Hauptbahnhof aus finanziellen Gründen fallen zu lassen. Nicht nur die Grün Alternative Liste in Norderstedt (GALiN) äußerte sich Ende April "tief enttäuscht" über die Kieler Entscheidung. Da der Flugzug insbesondere für Norderstedt die Chance geboten hätte, "eine schnelle Schienenverbindung in die Hamburger City, aber auch in die Landeshauptstadt" zu erhalten und damit auch den Gewerbestandort mit seinen Pendlerströmen zu stärken, fordert die GALiN nun die Kommunen entlang der möglichen Streckenführung auf, sich für eine Machbarkeitsstudie zusammenzuschließen. Eine solche Studie soll anschließend die Landesregierung doch noch auf Kurs Flugzug bringen.
Ruhe an der Protestfront
Nach den verkehrspolitischen Ankündigungen von Bürgermeisterei und Baudezernat ist es bislang überraschend ruhig geblieben. Weder die ehemalige Bürgerinitiative gegen den Autobahnanschluss, noch die einstigen AktivistInnen des "Bündnisses für eine soziale Stadt" haben sich bislang geäußert. So oder so bei womöglich noch aufkeimenden Protesten nicht dabei ist vermutlich Hartmut Reinke. Der Garstedter hatte sich noch 2003 an den Protesten des Bündnisses beteiligt und zahlreiche eigene Aktionen durchgeführt, um gegen die Abholzung Dutzender alter Eichen zugunsten des umstrittenen Gewerbegebietes "Nordport" zu demonstrieren. Doch nachdem die Eichen gefallen sind, hat Reinke sich arrangiert: Laut Norderstedter Zeitung ist er nun stolzer Besitzer eines Imbisses auf dem Nordport - und damit der erste Unternehmer auf den flughafennahen Gelände. Na dann: Guten Appetit!